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1992 - 2024
32 Jahre entwicklungspolitische Arbeit

 

In Paraguays Süden - mehr Wasser als Land.
von Hermann Schmitz † 30.03.2019
05.03.15     A+ | a-
Die Lehrwerkstatt in Medina (Ein Projektfortschrittsbericht)

Um 22.30 Uhr ging der Bus nach Pilar. Ich hatte Santiago am Telefon gesagt, ich wolle nicht, dass er mich bei Ankunft gegen 4 Uhr am Busbahnhof Pilar aholt - auch aus Eigennutz, ich zog es vor, im „Hotel Las Garzas“ noch eine Runde weiter zu schlafen - also im „Reiher“-Hotel (der Name hoffentlich kein böses Omen, denn die in der Nacht verzehrte Empanada hatte sich schon mehrfach zurück gemeldet). Ich ließ mir Zeit, und gegen 8 sah ich einen überraschend gut aussehenden Santiago durch die Reihertür kommen, braun gebrannt, mit fast weiß gewordenem Bart, der noch nie so akkurat gestutzt war und ihn fast schon seriös erscheinen ließ.
Herzlicher Empfang, auch durch Bety, Marne und Santiaguito, später kam Gustavo dazu, also seine Frau und drei von fünf Kindern... Wir redeten noch nicht spezifisch zum Werkstattprojekt, ich wollte erst vor Ort gewesen sein, um überhaupt irgendeine Stellungnahme abgeben zu können und zu wollen. Die Überschwemmungen und ihre immer noch sichtbaren Folgen waren Thema - u.a. der Zynismus eines Präsidenten Cartes, der beim Anblick der Wassermassen ausrief:
“Sage ich doch, hier werden wir aus ganz Ňeembucú eine riesige Reisplantage machen, man könnte ja so schon anfangen .....“
Wenn man an den Markierungen ablesen kann, bis zu welcher Höhe das Wasser reichte, mag man gar nicht glauben, dass jetzt vieles wieder wie Normal(pegel) aussieht. Die Umweltsünden wurden durch  das Hochwasser schonungslos aufgedeckt. Allüberall angeschwemmte Müllberge, zersetzt, stinkend, da holen sich nicht mal die Hunde mehr was raus. Die große Textilfirma „Manufactura Pilar“ hat bereits die Hälfte ihrer Arbeiter entlassen, die Überschwemmungen haben das Problem noch verschärft. Die Nähwerkstatt der Brizuelas ist verwaist, die Nähmaschinen stehen in Reih und Glied auf ihren aufgeräumten Tischen, als warteten sie darauf, endlich wieder losrattern zu können. Aber Bety nimmt längst - auch kleine - Privataufträge an, um über die Runden zu kommen. Dazu hatte Santiago 6 Wochen Knochenarbeit auf dem Land geleistet, die ihm von einem Bekannten angeboten worden war, der Santiagos Allroundtalent schätzt und ihn gut bezahlte...
Dass wir am nächsten Morgen nach Medina fuhren, war schon bei meiner Ankunft eine klare Sache, was mich eher erstaunte. Was wollten wir da, wo doch monatelang alle Arbeiten geruht hatten, die Überschwemmungen sicher auch an Schule und Werkstatt Schäden hinterlassen hatten. Das alles in einer Krisenphase - und obendrauf Santiagos Depression. Die zumindest schien überwunden, das sah und erlebte ich ja, alles andere war wie immer unklar, da in letzter Zeit überhaupt nicht oder unvollständig kommuniziert vom großen Schweiger... Und jetzt unterwegs mit dem Montero, einem zerfledderten Auto, so muss man es nennen, das immer wieder überredet werden musste anzuspringen - das ist jedes Mal wie eine Auferstehung, bestimmt weil dieser Dieselfresser eine Gabe des Redentoristenordens ist, der sich bestens versteht auf Fragen der Wiederauferstehung.
Ich spürte einen gewissen Zorn in mir aufsteigen. Sollte das jetzt eine Überraschungsfahrt ins Blaue werden?       „Heute muss die Galerie fertig aufgefüllt werden, die Maschine zum Verdichten kommt morgen...“ konnte ich, schon auf den letzten Metern, Santiago entlocken. Und da sah ich schon durch die gelb leuchtenden Agostoblumen das rote Schuldach ... Doch eine Überraschungstour?
Wie man´s nimmt: Die „Escuela Medina“ ist in ihrer Struktur völlig intakt, Santiagos großzügiger Bauweise und begleitender Beratung durch unser kundiges Mitglied sei Dank, allerdings sind ein paar äußere Schäden nicht zu übersehen, da wäre (wie bei sämtlichen Schulen Paraguays), eine Generalüberholung angesagt. Sonia, Lehrerin und lizensierte Sozialarbeiterin, mit eingeplant zur Koordinierung des Werkstattprojektes, ist seit 3 Wochen stellvertretende Schulleiterin!
Wie geht das? Nun, die alte, ebenso unfähig wie ungeliebt von Eltern und Schülern, wurde von ihrem Mann erschossen - vor genau der Klassentüre, aus der gerade Sonia kommt um uns zu begrüßen.
Der Tätergatte, einflussreicher Coloradoparteigänger, ist bis heute flüchtig. Er war es, der seine Frau, ebenfalls Coloradistin, in die Stelle von Medina gehievt hatte. So hatte sich ein Dauerproblem der Schule auf ganz besondere Weise gelöst.
Die Lehrerin und Sozialarbeiterin Sonia hat die Vertretung gern übernommen, man sieht es an ihrem so ganz anderen Umgang mit den Kindern. Ob sie als Schulleiterin bleibt oder ins Projekt zurückkehrt, ist noch nicht entschieden.
Die Werkstatt war eine Baustelle, an der drei Arbeiter, gut aufgelegt, Schubkarre um Schubkarre lehmig-sandigen Bodens rings um das lange Gebäude aufschütteten als Fundament für die von Santiago erwähnte Galerie. Bald gesellte er sich zu den dreien, das Ergebnis am Ende des Tages war ein Riesenloch, das zur Beerdigung des gesammelten Mülls genutzt werden sollte. (Ich glänzte durch Passivität, hatte ich doch noch immer „Rücken“.) Die weitläufig überschwemmten Rio Paraná y Rio Ňeembucú hatten weder die Schule noch die Werkstatt erreicht, Stolz des Santiago mit seinen Berechnungen zu den Geländeerhebungen. Die Innenräume, in denen bekannntes Material aus Kempener Sammelzeiten mich grüßten, waren trocken. Alles Material schien, nach grobem Abgleich mit meiner Liste, vorhanden und intakt, wenn auch angestaubt.
Die Ordnung eines Josef, unser „Senior Expert“, hatte sich, in Grenzen, über die Zeit behauptet. Josef hat inzwischen entschieden, im Februar 2015 vor Ort weiter zu werkeln und zu brasseln, das Improvisieren a la Paraguay - gar nicht seine Arbeitsmethode - scheint ihm gleichwohl zu gefallen. Ich glaube, als gelernter Pädagoge, der er schließlich auch ist, wird er nicht nur beim weiteren Ausbau anpacken, sondern auch den 12 Jungen und Mädchen etwas beibringen wollen. Josef scheint immer an den Fortgang des Projekts geglaubt zu haben - vielleicht hat das ja auch geholfen.
Alle vier „Abteilungen“ des Gebäudes sind im Prinzip einsatzbereit: - Metall (Schweißen, Eisenschmiede, allgemeine Reparaturen), - Holz (einfache Möbel, Türen, Holzgeräte), - Weben (für Hausfrauen, zur „Bereicherung“ ihres Alltages ...), - Nähen (Schneiden und Nähen von div. Kleidung, Vorleger, Arbeitskleidung und Schuluniformen) Und: Es soll tatsächlich im Oktober los gehen! Personal: Sonia del Pilar Céspedes als Leiterin, Sandra Silva als Sekretärin, Rafael Alpizar als Ausbilder für Metall, Guido Ruíz als Ausbilder für Holz Geld für die laufenden Ausgaben soll über den Verkauf von Möbeln oder Metallarbeiten erwirtschaftet werden, die auch Beispiele sind für das in der Ausbildung Erreichte. Jeweils ein beonders begabter Jugendliche soll auf spätere Ausbildungstätigkeit vorbereitet werden.
Die Elektrizitätsgesellschaft hat zwei zusätzliche Verstärker (?) am Transformator angebracht, sodass alle Maschinen laufen. Die Stadt Pilar hat neben der Finanzierung der Basisarbeiten zwei Zusatzprojekte für die Werkstatt finanziert, z. B. die Rundumüberdachung (Galerie), die Bezahlung der Ausbilder für zunächst drei Monate (ein „Beschluss“ der Verwaltung) und danach für den Rest eines Jahres „zugesagt“, auch mir gegenüber. „Señor Schmitz, wir sehen die besondere Bedeutung dieses Projektes und Ihre große Leistung!“ Ist ja nett, aber „Vor“leistung hätte man lieber gehört.
In der Mittagessenspause zwischen Maschinen erläutert Santiago seine Sicht. In Bezug auf die Unterstützung durch den Staat ist er (zwangs“?)optimistisch, seine eigene Rolle scheint ihm noch nicht ganz klar.
Aber kategorisch erklärt er, die Aufgaben an staatliche Stellen zu binden, „wo sie auch hingehören“. „Unangenehm“ sei allein das ständige Pendeln des Koordinators (auf einmal fällt die Bezeichnung) zwischen Pilar und Medina (35 km). Aber man fände schon eine Form, das Problem zu lösen (Kosten). Santiago hat das 1 ha - Feld hinter der Werkstatt bestellt, da soll ein Gutteil der Nahrung für die „Schulküche“ her kommen, aber es bliebe genug auch für ihn....Ich staune, wie groß ein Hektar ist. Also doch Santiago als „Coordinador responsable“? Ich bekräftige, dass wir uns das jedenfalls so vorstellen, von Bezahlung ist nicht die Rede (wie überhaupt bei diesem Aufenthalt kein Centavo aus der PPI-Kasse kommt, da war ein neues Selbstbewusstsein zu spüren, Sprit wurde selbst bezahlt, es gab reiche Mahlzeiten im Haus, für die Werkstatt steht Geld bereit. Unfassbar!
Das Projekt heißt „Formación Laboral“, also „Arbeitserziehung“ - klingt im Deutschen nicht so nett, ist aber das Heranführen sonst chancenloser Jugendlicher an Arbeitsprozesse, aber auch an weiter reichende technische Fähigkeiten im Bereich Metall und Holz, um so eine Arbeitsplatzchance im eigenen Umfeld zu erhalten. Das Projekt ist auch ein Beitrag, nicht mehr nach Argentinien zu emigrieren in die sichere Ausbeutung. Die Zahlen der „Exiliados“, die eigentlich „Expulsados“ heißen müssten - Vertriebene auf Grund einer katastrophalen staatlichen Arbeitsmarktpolitik - sind nach wie vor hoch. In der Nacht vor meiner Abfahrt macht Santiago seine „Hausaufgaben“, eine Beschreibung der aktuellen Situation und ihre Pläne für die Zukunft, er fügt den Antrag seiner „Grupo de Solidaridad“ bei, der den ungewohnten Mittelfluss der „Gobernación“ von Pilar mit ausgelöst hatte.
Gekonnt stellen sie da ihr „Centro de Formación y Capacitación Laboral“ mit dem Namen Solidaridad vor. Neu für mich, dass auch Erwachsene teilnehmen können. In Befragungen hat sich dies, neben anderen Ergebnissen, als von der Bevölkerung gewünscht ergeben. Die Lernbereiche sind genau beschrieben, eine Zeittafel erstellt, die Verantwortlichkeiten benannt - und unter den Ehrfurcht erheischenden Begriffen „Misión, Visión y Fines“ (Aufgaben,Perspektiven und Ziele) die Motivation ihres Tuns dargelegt. Sogar die Hausordnung bis hin zum Verbot der Handys („celulares“ auf paraguayisch) ist schon beigefügt...
Da kann ja nichts mehr/immer noch einiges schief gehen, beides oder von beidem etwas wird ganz sicher eintreten. Das Hotel der Reiher war bezahlt, eine ganze Klasse besser, aber auch teurer, als mein gewohntes „Monumental“ - das Geld kommt von der Musikabteilung der „Universidad Nacional“, die einen Teil der ehemaligen „Klinik“ in dem schönen alten Gebäude für sich und ihren Musikkonservatoriumsbetrieb nutzt, gegen Mietzahlung natürlich. Rund 100 Studierende erlernen dort ein Instrument - und nicht etwa nur Harfe oder Gitarre, was man unschwer beim Vorbeigehen am vielstimmigen musikalischen Durcheinander hören kann.
Die Uni soll bleiben, zumal die Leistungen ihrer Musikabteilung über Pilars Grenzen hinaus anerkannt sind. Sie haben als einzige Uni im Landesinneren ein symphonisches Orchester, das ich leider nicht hören konnte, es soll recht gut sein. In einem nicht mehr genutzten Teil des Gebäudes soll eine „Farmácia Social“ eingerichtet werden, in der die vom Staat nicht geleistete Versorgung mit Medikamenten sicher gestellt wird - mit bei MEDEOR bestellten Medikamenten, mit denen man schon vor Jahren beste Erfahrungen gemacht hat, (Ob da auch die Hoffnung auf Mitunterstützung durch unsere PPI Pate gestanden hat?) Sie verhandeln gerade mit dem Unirektorat und der Stadtverwaltung, die man bei diesem Projekt mit ins Boot holen will. Letztere zeigt großes Interesse.
Der UNIMOG bekommt eine Schönheitsoperation, um ihn besser zum Verkauf anzubieten. Interessenten gab es schon, aber das Angebot gefiel nicht. In Wahrheit, gesteht Santiago, ginge ein Verkauf dieser „Reliquie“, an der so viele Geschichten hängen, ihnen allen doch sehr ans Herz. Ich war gekommen, um mit Santiago Klartext zu reden, auch hatten wir beschlossen, ihm dringend zu einer Kooperation mit dem „Colegio Juan XXIII“ zu raten. Im Grunde stand eine Besinnungsphase in der Projektarbeit zur Debatte - mit einem Partner, der sich über all die Jahre der Zuamenarbeit immer für die Belange der Armen eingesetzt hat. Er hat unzählige (meist unbezahlte) Stunden Arbeit geleistet, war immer da, wenn man ihn bei einer Notlage rief - immer ihn ! Dann hat er auch mit kreativen, improvisierten Lösungen aufgewartet, gezielt und schnell gehandelt. Santiago hat viele Menschenleben gerettet. Er konnte aber auch eine fast die Gesundheit anderer schädigende Hektik verbreiten. Beneidenswert sein Umgang mit Chaos. Äußerst kritisch gegenüber dem Staat und seinen Politikern, arbeitete er doch mit ihnen zusammen, wenn es ihm sinnvoll erschien.
Die Heuchelei der Kirchenvertreter erkannte er scharfsinnig und verabscheute sie. Fristen und Erfordernisse einer Projektzusammenarbeit konnte er souverän umschiffen, ohne dass es Grund gab, an seiner Integrität zu zweifeln. Er forderte nie etwas für sich, nicht einmal aus Bescheidenheit - er konnte das einfach nicht! Sein Kommunikationsverhalten trieb uns oft zum Wahnsinn, das verstand er nicht. Da hat er uns nun am Ende wieder ziemlich alt aussehen lassen.
Hört sich fast wie eine Abschiedsrede an, ich bin aber eher der Überzeugung, dass es mit Santiago weiter geht  -  und mt dem Projekt!
„Santiago caótico“ wird womöglich wieder mit einer genialen Strategie aufwarten.....

Hermann (überarbeitet Januar 2015)
Anfügung März 2015:
„Unser Mann vor Ort“, Josef der Lehrer, Handwerker, Schauspieler und Solo-Entwicklungshelfer (und inzwischen auch Paraguayliebhaber) meldet „Vollzug“: Fast klingt er ein wenig ungläubig, wenn er beim Telefonat aus Pilar in Paraguay erzählt, wie er vor Ort Zeuge und Beteiligter wird beim Beginn der Ausbildung im „Taller de Formción Laboral“ Anfang März. Na bitte  -  wir berichten.

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